Ein Roman, der nachhallt.
Nina George schreibt Romane, die berühren, ohne dabei kitschig zu sein. Sie erschafft Bilder, die bleiben und Figuren, die etwas zu sagen haben. Für mich ist sie eine Meisterin der Worte und ich freue mich auf jede Neuerscheinung.
Mit Die Passantin hat sie mich aber so richtig erwischt. Vielleicht, weil es mein Thema ist. Vielleicht, weil es so ernsthaft ist. Manchmal unbequem und gleichzeitig hoffnungsvoll.
Während viele Romane (wie auch mein Buch Lügenjahre) häusliche Gewalt, toxische Beziehungen, patriarchale Handlungen im Jetzt zeigen, ist in Die Passantin die Protagonistin Jeanne Patou ganz plötzlich ein paar Schritte weiter:
Die gefeierte Schauspielerin hat durch einen schrecklichen Zufall die Möglichkeit, für tot gehalten zu werden. Aber ist sie wirklich frei, auch wenn sie die Freiheit auf dem Silbertablett angeboten bekommt? Sie könnte ihrem Mann entkommen, ihrem Peiniger, der sie zu seiner Marionette und zu seinem goldenen Zapfhahn gemacht hat.
Doch wenn sie tot ist, ist sie das nicht nur für sich, sondern vor allem für ihre beiden Töchter, für ihre Mutter, Freunde und für ihre Schauspielkarriere. Ein hoher Preis!
Ich glaube, nur Frauen, die jemals in einer solchen Beziehung gesteckt haben und nicht wussten, wie sie entkommen können, haben eine Ahnung, wie verlockend dieses Angebot sein kann. Auch meine Karla hat sich manchmal einfach "weg" gewünscht, wenn sie keine Kraft mehr hatte, um weiterzumachen.
Jeanne Patou, die ihr früheres Leben und ihren wirklichen Namen für Bernard abgestreift hat, befindet sich also in Barcelona in einer Bar, während im Fernsehen ihr vermeintlicher Tod bekanntgegeben wird. Hin- und hergerissen zwischen diesem einmaligen Geschenk und den daraus resultierenden Verlusten wägt sie ab, fern von ihrem Pariser Zuhause. Sie weiß nur eins: Sie will nicht erkannt werden. Eine Begegnung führt sie zu einem Haus, in dem sie unsichtbar für die Außenwelt sein und nachdenken kann.
In diesem Haus leben Frauen wie Jeanne: Frauen mit Narben im Gesicht und in der Seele, die ihr altes Leben abgestreift haben. Was sie erlebt haben, ist beim Lesen manchmal kaum zu ertragen.
Nina George hat die Geschichten der Frauen schonungslos, aber voller Liebe gezeichnet. Mit Worten, die wachrütteln, die wehtun, die trösten. Sie erzählt die Geschichte mit einer solchen Wucht, dass ich mich zwischendurch zu Lesepausen zwingen musste, um durchatmen zu können.
Das Buch ist sicherlich nicht einfach zu lesen (literarisch definitiv, wie man das von der Autorin gewöhnt ist), aber es ist ein so wichtiges feministisches Buch. Es ist eindringlich, zeigt das Patriarchat aus vielen verschiedenen Blickrichtungen, zeigt die Verletzlichkeit und Stärke der Frauen.
Der Spannungsbogen ist über den gesamten Roman hinweg äußerst hoch. Jedes Wort ist mit Bedacht gewählt, jeder Satz eine Melodie. Das ist Literatur vom Feinsten.
Danke für dieses Buch, Nina!