Heute möchte ich euch die Geschichte meiner Mutter erzählen, die sie aufgeschrieben hat, als Corona plötzlich ihr Leben auf den Kopf gestellt hat.
Im November 2019 ist mein 80-jähriger
Mann in einem DRK-Pflegeheim aufgenommen worden. Ich habe ihn jahrelang selbst
gepflegt, bis ich physisch und psychisch nicht mehr dazu in der Lage war. Er
hatte vor Jahren einen Herzinfarkt, dazu folgten Hüft-OP, Prostata-OP,
Orbitalboden-OP nach Sturz, einige leichte Schlaganfälle, immer wiederkehrendes
Vorhofflimmern, Demenz, viele Stürze auf Grund seiner Bewegungseinschränkungen,
Störung des Tag- und Nachtrhythmus, Rollstuhl.
Im Pflegeheim wurde er sehr
liebevoll aufgenommen, für mich war es äußerst emotional. Ich wollte ihn nie
ins Pflegeheim geben und doch schaffe ich es nicht mehr, war überfordert, der
Schlaf fehlte. Mein schlechtes Gewissen plagt mich, obwohl jeder sagt: „Es ist
richtig so.“ Ich weiß es auch, aber …
Die Ärzte raten mir schon im Sommer
zu diesem Schritt, aber ich will es schaffen, alleine. Und allein war ich in
jeder Beziehung – keine Hilfe!
Ich besuche ihn täglich im Heim.
Anfangs will er immer nach Hause, die Eingewöhnungszeit dauert. Eine Pflegerin
fragt, ob es ihm hier nicht gefalle und er antwortet: „Doch.“ Und strahlt sie
an. Für mich ein Glücksgefühl und Hoffnungsschimmer. Es wird schon werden.
Langsam gewöhne auch ich mich an
die Atmosphäre im Heim und fühle mich wohl. Alle Bewohner sind demenzkrank und
ich lerne die verschiedenen Formen und Entwicklungsstufen der Demenz kennen.
Die Bewohner gewöhnen sich auch mehr oder weniger an mich, bin ich doch täglich
dort. Eine Bewohnerin kann noch sehr gut und sehr schnell gehen, spricht aber
nicht. Als sie mich nach einigen Wochen anlächelt, ist es ein Glücksgefühl für
mich. Irgendwann im Winter kommt sie mir im Flur entgegen. Ich nehme mit meinen
eiskalten Händen ihr Hände und sie sagt: „Das gibt’s doch nicht!“ Was für eine
wundervolle Reaktion. Sie spricht! Später guckt sie zu uns ins Zimmer rein,
sieht mich an und ich sage: „Meine Hände sind wieder warm.“, sie antwortet: „Dann
ist gut.“ Es sind solche kleinen Momente, die glücklich machen.
Die Meisten auf der Wohnebene
kennen meinen Namen - die Pflegekräfte sowieso - weil mein Mann mich sehr oft
ruft, hauptsächlich nachts, wenn er wieder mal gestürzt ist. Er vermisst mich.
Ich vermisse ihn auch und doch ist es die beste Lösung so. Er wird gut versorgt
und es ist immer sofort Hilfe da. Er braucht oft Hilfe.
Ja, und dann kommt der 13. März und
ich stehe vor verschlossener Tür. Corona! Besuchsverbot bis auf Weiteres!
Damals ging man noch von zwei bis drei Wochen aus, aber weit gefehlt. Jetzt im
Juni ist es immer noch so, allerdings mit leichten Lockerungen. Mein Mann
versteht nicht, warum ich jetzt nicht mehr komme, nicht mehr kommen darf. Immer
wieder Erklärungen. Wie soll er es auch verstehen, man versteht es ja selbst
kaum. Die Pflegebedürftigen haben ja keinen Bezug dazu. Sie erleben nicht das
Tragen des Mundschutzes in Geschäften, Bussen usw., das Abstandhalten, dass man
sich mit Mitgliedern verschiedener Haushalte nicht treffen darf und all diese
bekannten Maßnahmen. Ich bin froh, dass wir noch telefonieren können, wenn es
auch nur fünf Minuten sind, weil er dann überfordert ist und schlafen will.
Aber wir hören uns! Oft muss das Pflegepersonal helfen, wenn er es wieder
einmal nicht geschafft hat, den Hörer aufzulegen. Zum Glück ist es ein altes
Telefon mit Hörer, denn mit einem Modernen würde er gar nicht mehr
zurechtkommen. Er selbst ruft keinen an, er schafft es nicht mehr, kennt auch
unsere Telefonnummer nicht mehr.
Nach acht endlos erscheinenden
Wochen darf ich ihn am Zaun des Heimes besuchen. Er sitzt im Garten, ich stehe
auf dem Parkplatz, zwei Meter Entfernung. Was in dem Moment gefühlsmäßig in mir
vorgeht, kann ich kaum beschreiben. Meine Tränen fließen. Er versteht nicht,
warum ich nicht reinkomme. „Das Tor ist verschlossen! Gleich holen sie dich,
dann gehen wir in mein Zimmer.“ Sie holen mich nicht - ich weiß es! Es sind die
Vorschriften, die richtig sind, die ich total verstehe, weil diese Personen im
Heim eine Vorgeschichte haben, weil sie gesundheitlich besonders gefährdet sind,
und doch: Es ist so schwer - für beide Seiten! „Wann kommst du wieder?“, ich
weiß es nicht. „Hol mich heim!“, es geht nicht. Es tut so weh. Das schlechte
Gewissen meldet sich wieder.
Eine gute Woche später dürfen wir
uns im Heim wiedersehen, in einem speziell eingerichteten Besucherzimmer, an
einem zwei Meter langen Tisch, mittendrin eine Plexiglasscheibe, eine
Pflegekraft als Aufsicht dabei. Vorher Hände desinfizieren, Mundschutz, Zettel
ausfüllen, dass ich keinen Kontakt zu COVID-19-Patienten hatte und gesund bin.
Für 30 Minuten dürfen wir uns sehen. Für ihn reicht es. Nach 30 Minuten baut er
ab und ist nicht mehr aufnahmefähig. Ich soll mit in sein Zimmer kommen -
wieder Erklärungen. Er wird mit dem Rollstuhl weggefahren, ich darf ihn nicht
umarmen. Er will ein Abschiedsküsschen. Wir dürfen nicht. Wie soll er das alles
verstehen?! Es tut richtig weh. Aber: Ich darf ihn weiterhin besuchen, immer
nach Terminvergabe, immer für 30 Minuten und immer mit den gleichen
Vorsichtsmaßnahmen. Ich hoffe so sehr, dass diese schlimme Corona-Zeit, die mir
ewig in Erinnerung bleiben wird, bald vorbei ist, dass alles wieder normal
wird, dass ich meinen Mann wie anfangs regelmäßig besuche, ihn in den Arm
nehmen kann, und dass ich auch die anderen Heimbewohner wiedersehe.
Ein großes Lob und Dankeschön
gebührt allen Mitarbeitern des Pflegeheimes. Sie kümmern sich aufopferungsvoll
und liebevoll um alle Bewohner. Sie müssen so vieles auffangen, erklären,
trösten. Kein leichter Job, zu „normalen“ Zeiten nicht und jetzt erst recht
nicht.